Autoimmunerkrankungen

Wie das Wort schon sagt, scheint hier das Immunsystem, das Militär des Körpers, das ursprünglich eigentlich dafür aufgestellt wurde, um feindliche Eindringliche abzuwehren, sich an einer Art Bürgerkrieg zu beteiligen, bei dem beispielsweise im Fall der Hashimoto-Thyreoiditis die ganze Schilddrüse flöten gehen kann. Spurlos verschwindet. Bis auf den letzten Rest aufgelöst wird, und das so, dass man später gar nicht auf den Gedanken kommen könnte, dass hier einmal eine Schilddrüse war. Ein Vernichtungskrieg also. Da ist schon die Frage erlaubt: Warum macht ein Körper das? Vor allem: Welche Gewebe und Organe des Körpers können denn vom Rest des Körpers dermaßen als Feinde definiert werden?

Es gibt heute 60 bekannte Autoimmunerkrankungen. Die Wissenschaft schreitet fort, wird immer genauer. Vielleicht erkennt man deshalb auch labortechnisch eher, was früher durch einfachere Untersuchungen unter den Tisch gefallen ist. Trotzdem bleibt die These zulässig, dass es früher wohl keine oder nur sehr wenige dieser Erkrankungen gegeben hat. Autoimmunkrankheiten sind modern. Sie sind Ausdruck unseres westlichen Lebensstils, der ja auch in anderen Bereichen die soziale Integrität oft längst aufgegeben hat. Es hat sich hier einiges an unserer sozialen Struktur geändert. Früher gab es ein Urvertrauen in Gemeinschaften, enge Familien, Sippen, Religionsverbände, ein Vertrauen, das so heute nicht mehr gegeben ist.

Wir leben in einer Zeit, in der wir routinemäßig von unserer Umgebung als Gegner, vielleicht sogar als Feinde erkannt werden – fast so wie Zellen in einem Organismus, in dem sie früher einmal einfach dazugehört haben, nun aber von Immunzellen angegriffen werden. Das heißt, dass Autoimmunerkrankungen im Grunde genommen nur ein Phänomen spiegeln, das sich in der westlichen Welt zum integrativen Bestandteil unseres Lebens in der Gesellschaft entwickelt hat. Einzelpersonen sind im Umfeld zunehmender Überwachung markierte Zellen geworden, die jederzeit dem Zugriff von außen unterliegen können.

Bei den Autoimmunerkrankungen betrifft dieses Phänomen vor allem die äußeren und inneren Oberflächen des Körpers, darüber hinausgehend aber auch die Leistungszentren wie die Leber, die Niere oder das Gehirn. Es ist eine therapeutische Erfahrung, dass man einen Menschen etwa mit Multipler Sklerose, bei der Gehirn- und Rückenmarkszellen von dieser Autoaggressivität befallen werden, mit Menschen vergleichen kann, die einen Lupus erythematodes oder ein Goodpasture- Syndrom haben, bei dem die Niere betroffen ist, und dass diese Menschen innerlich mit Patienten übereinstimmen, die an Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse wie dem Morbus Basedow oder der Hashimoto-Thyreoiditis leiden. In allen diesen Fällen gibt es eine Lebenssituation oder einen seelischen Kernkonflikt, bei dem seelische Grenzüberschreitungen zur »Organüberforderung« führen.

Das Selbstbild des Organs, seine Identität, wird angegriffen und grundsätzlich infrage gestellt. Selbstzweifel sind die Grundlage dieses Mechanismus, weshalb es im seelischen Erleben eines Menschen nichts Schlimmeres geben kann, als von außen dazu gezwungen zu werden, eigene Gefühle, Gedanken oder Handlungen grundsätzlich infrage stellen zu wollen. Einem Menschen Eigeninitiative zu rauben kann hier sehr gefährlich werden. Diese Art von Zwang hindert den einzelnen Menschen daran, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und seine Gesetze nach dem zu gestalten, was man selbst für gut und richtig erkennt. Wer den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant (»Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden könnte«) nicht leben kann, der öffnet das Tor zu Krankheiten des Selbstzweifels.

Denn es ist eine Grundbedingung des Lebens, dass jedes Organ im Körper zu seinem Recht kommen muss. Dass es auch für den gesamten Körper als gut gilt, wenn es seine Funktionen wahrnimmt. Dadurch, dass die Menschheit eine klare Führung verloren hat, wie das früher der Glaube und eine stärker von Moralvorstellungen regierte Gesellschaft bieten konnten und außerdem noch vonseiten einer Wirtschaft, die mehr und mehr Produkte verkaufen möchte, zunehmend starker Druck auf den Menschen ausgeübt wird, dieses oder jenes glauben oder tun zu müssen, kann es leichter passieren, dass der Einzelne an Orientierung verliert, sich selbst als unfähig und die eigene Urteilskraft grundsätzlich als unzureichend empfindet und sich Halt suchend in Abhängigkeiten begibt, die zu tief gehenden Enttäuschungen führen.

Das kann sich im Immunsystem so auswirken, dass ein Zwang, der von außen auf die Seele einwirkt, dadurch zu dem »Erfolg« führt, dass der Körper in großer Bereitwilligkeit jenes »Hindernis«, das er gegen diese Anmutungen noch bietet, einfach im vorauseilenden Gehorsam selbst entfernt. Selbstzerstörung als Weg, könnte man sagen. Es ist, als würde man sich ins eigene Bein hacken. Welcher Aggressor kann es aber sein, der die Hashimoto-Thyreoiditis hervorruft? Es muss ein Zwang sein, der sich gegen die eigene Leistungsbereitschaft des Menschen wendet, die Eigeninitiative, eine Kraft, die von der Schilddrüse aktiviert und unterhalten wird. Es muss auch ein Zwang sein gegen die Individualität und die eigene Attraktivität als Person, denn eine gut funktionierende Schilddrüse macht uns jugendlich und schön, während uns eine kranke Schilddrüse älter und kränker wirken lässt, als wir sind.

Eigentlich ein Zwang also, der einem die eigene Wesenhaftigkeit rauben möchte. Und die Therapie einer Hashimoto-Thyreoiditis wird dann zum Versuch, sich gegen diese Zumutung zu wenden und der Persönlichkeit des Patienten oder der Patientin wieder neu zum Durchbruch zu verhelfen. Denn wer die Schilddrüse »rettet«, der rettet das an einem Menschen, was ihn zu dem macht, was er eigentlich ist.